Petra Mettke
Das Buch des Schicksals
™Gigabuch Winkelsstein 4
Roman
2011
460 Seiten
Das Winkelsstein Lied
Winkelsstein, mein Winkelsstein,
deine Adler sollen fliegen,
durch die gesamte Ewigkeit
darf sie niemand kriegen.
4. Strophe:
Das Schicksal überrollt aller Winkelssteiner Leben …
Was ist Schicksal?
Simon Geromund setzte sich ins Stationszimmer an den Schreibtisch, um das Formular auszufüllen. Olivia holte das Ergebnis der Blutproben aus dem Labor. Da klingelte das Kliniktelefon.
„Azo, hier! Kann ich mal Franziska oder Simon sprechen?“
„Am Apparat, Onkel Azo.“ -
„Haben wir ein Intensivbett frei?“ -
„Ja.“ -
„Wart mal!“ sagte Azo und Simon hörte, wie er offenkundig in eine zweite Leitung sprach:
„Ist frei. - Muss ich auch fragen, Augenblick! - Simon?“ -
„Ja?“ -
„Können wir eine Person völlig abgeschirmt für mindestens 14 Tage
aufnehmen?“ -
„Das kommt darauf an, was sie hat. Größere Operationen nicht, zum Beispiel.“
-
„Ich weiß. Es sind Splitter, Knochenbrüche und Schmerzen, ein Unfall eben.“
-
„Ja, kann versorgt und abgeschirmt werden.“ -
„Gut, danke, bleib bitte dran!“ -
Simon Geromund hörte das weitere Gespräch seines Onkels mit seinem Sohn Maurice mit. Der Notfall müsse heimlich verschwinden und weil es schon in den Nachrichten eine Hauptmeldung sei, müsse man sein Double in der Stadt in eine Klinik schaffen und die Person selbst aus der Öffentlichkeit verschwinden lassen. Dann meldete sich Azo bei Simon Geromund:
„Du, Simon, hast du Zeit?“ -
„Nja, Njein.“ -
„Äh, gut, ich komme.“ und Azo legte auf.
Simon Geromund überlegte und schickte Franziska eine Textnachricht: Notfall von außen für Intensiveinheit im Anflug aus der Stadt. ‚Was jetzt wohl kommen mag?’ Er füllte schnell das Formular fertig aus. Seine Mutter kehrte zurück, brachte die Ergebnisse mit und sie erschrak, denn Azo stürmte herein.
„Simon, ich muss dich dringend sprechen.“ legte er die Hand besänftigend auf Olivias
Schulter: „Entschuldige, ich habe es eilig, bitte vertröste die Patienten, komm Simon!“ -
Simon Geromund nahm Azo mit in einen Geräteraum, der ohne Personen war.
„Simon, was macht dein IRA?“ fragte Azo.
„Es lässt sich nicht regulieren, egal, ob es am Tage ist oder in kompletter Dunkelheit.“
-
„Gar nicht, oder wie.“ -
„Ich habe es oft angeschaltet, um den Stau zu verhindern. Manchmal macht es einfach, was
es will. Kontrolle ist etwas anderes.“ -
„Dein Scan sagt aus, das Gewebe um dein Auge ist von XP verletzt worden, da ist wohl
nichts mehr zu machen.“ -
„Vermutlich, Onkel Azo. Die Unzulänglichkeit ist jedenfalls arg gesunken, seit ich die
24 Stunden Aktivität durchziehe und nur tunnelnd schlafe.“ -
„Junge, das kann auf die Dauer nicht gut gehen.“ -
„Das weiß ich und so lange es noch geht, sollte ich meine Fachausbildung und die Habil
weiter vorantreiben.“ -
„Gut. Ich setze dich wieder für die Tagesschicht als Assistenzarzt ein und beende deinen
Urlaub. Franziska liegt mir schon länger in den Ohren, sie braucht dich. -
„Ich weiß. Es wird ihr aber wirklich zuviel.“ -
„Ja, du hast Recht.“ nickte Azo und setzte hinzu: “Aber das Verbot bleibt bestehen, dass du Simone Rabe zu Rabe Winkelsstein meidest und nicht mit ihr sprichst. Sie muss in der Öffentlichkeit arbeiten, es wäre fatal, wenn sie dort zusammenbricht und alle denken, was ist los mit ihr.
„Habe verstanden.“ -
Ist der Name nicht egal?
Bruder Brentanolus ging verzweifelt in seiner Studierstube auf und ab. In der Mitte stand der Tisch, auf ihm lag der sechzehnte Band vom Buch des Schicksals aufgeschlagen und bereit für die nächste Unterweisung mit Simon. Der Pater stand vor den Scherben seiner heilen Welt, alle Erhabenheit in seiner Haltung hatte ihn lautlos verlassen. Er fühlte sich plötzlich getrieben von seinen Teilwahrheitswelten, deren kluge Separation all die Jahrzehnte seine Zufriedenheit wie ein Ektoskelett getragen hatte. Heute war Mittwoch, der 17. Juli 2024 und auf seinem Schreibtisch lag die schriftliche Bitte des Fürsten vor, er solle sein Patenkind Simone auf die Vornamen ihrer sprechenden Seelen taufen. Damit kam der Tag der Wahrheit auf ihn zu. Sein Kartenhaus drohte einzustürzen. Sich durch eine Amtshandlung enttarnen zu müssen, setzte seinem unsäglichen Schicksalsschweif das apokalyptische Sahnehäubchen auf. Er, der die Visionen lesen konnte, um dem Schicksal seine düstere Macht streitig zu machen, er wurde ganz ohne Visionen vom Schicksal Schach matt gesetzt. Schon früher schmeckte das Leben im Schicksalssog nach Schwefel, jetzt breitet sich erneut dieser Geruch über ihn aus. Er würde vielleicht wirklich vom Teufel abgeholt werden, von dessen Existenz er sich nicht restlos überzeugt wähnte.
Das Gefühl sich vom Schicksal aus dem Sattel geworfen zu empfinden, begann bei Bruder Brentanolus, als er von Simon erfuhr, Simone trage die Seele Valeries. Seitdem zündete er zwar aus Gewohnheit die Lebenskerze vor dem Portrait der Prinzessin an und sah sie im flackernden Kerzenschein so vertraut zwinkern, doch er konnte vor ihr nicht mehr in die Knie gehen und beten. Das ging nicht mehr. Sie hatte mit einem Schlag alle Spiritualität eingebüßt. Der göttliche Auftrieb blieb weg und er nahm ihr Antlitz als das wahr, was es ist, das Bild einer wunderschönen Frau. Sie befand sich nicht im Himmel, er brauchte nicht mehr zu ihr aufzusehen. Sie lief in ihrem neuen Leben unter den Lebenden fast an seiner Seite herum. Wenn ihm jetzt zu beten zumute wurde, musste er sein Quartier verlassen, um in der Kathedrale oder wenigstens in der Sakristei es zu versuchen, das Empfinden für das Höhere wieder zu finden.